Business as usual: Es wird schlechter

Demokratie unter Druck

Vom 15. bis zum 19. September 2019 besuchte ich Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete. Ziel war es, sich in Gesprächen mit Offiziellen wie der Zivilgesellschaft der palästinensischen Autonomiegebiete und Israels einen Überblick über die Lage vor Ort zu verschaffen. Während des Besuchs fanden in Israel vorgezogene Neuwahlen statt. Zudem nahm ich an einer Diskussion des TV-Senders Phoenix zur Rolle des Iran seit 1979 teil. Begleitet wurde ich von Jörn Böhme.

Zusammenfassung

  • Das Zwei-Staaten-Paradigma ist unter wachsendem Druck. Dies ist nicht nur eine Frage der Formalisierung erfolgter Annexionen. Erweiterungen und Neubau der völkerrechtswidrigen Siedlungen, vor allem aber der Bau neuer Infrastruktur, verschärfen die Separation der Bevölkerungen und die Spaltung der palästinensischen Gebiete in unverbundene Teile.
  • In Ostjerusalem hat sich der politische, (schein-)legale, polizeiliche und wirtschaftliche Druck gegenüber der palästinensischen Bevölkerung deutlich verschärft. Er zielt auf die Verdrängung von Palästinenser*innen in die Westbank oder in die hinter der Mauer liegenden Stadtslums zugunsten von Siedlern.
  • Nethanjahus Ankündigung nach dem Golan und Ostjerusalem auch das Jordantal formal zu annektieren wird auf der palästinensischen Seite scharf verurteilt. Sie erwartet darauf eine klare Antwort Europas und Deutschlands etwa in Form der Anerkennung des palästinensischen Staates durch Mitgliedsstaaten der EU.
  • Deutsche Entwicklungsprojekte in den besetzten Gebieten werden von den Besatzungsbehörden systematisch blockiert und über Jahre verzögert – häufig verbunden mit dem Ansinnen, in diese Projekte auch die illegalen Siedlungen mit einzubeziehen.
  • Israel begrüßt das Ende der der finanziellen Unterstützung von UNRWA durch die USA. Es gibt aber keine Antwort, wie es so die Hunderte von Schulen und Krankenstationen finanzieren will, die dann von der Besatzungsmacht zu tragen wären. Die Forderung, die Unterstützung von UNRWA einzustellen, wurde uns gegenüber nicht erhoben.
  • Kürzungen der internationalen Budgethilfe und die Sperrung der Zolleinnahmen durch Israel verstärken die Unterfinanzierung der palästinensischen Administration und verschärfen die Wirtschaftskrise. Ein Viertel der palästinensischen Bevölkerung lebt in Armut. Die Armutsrate im Gazastreifen ist im Jahr 2017 auf 53 % gestiegen.
  • Die Besetzung und der blockierte Friedensprozess spielen in der breiten Öffentlichkeit Israels keine Rolle. Die ökonomische Entwicklung ist bisher gut. Allerdings gibt es weiterhin gravierende soziale Verwerfungen, von denen besonders die in Israel lebenden Palästinenser*innen sowie die ultraorthodoxe Bevölkerung betroffen sind. Fragen der sozialen Gerechtigkeit, die 2011 viele auf die Straße trieben, spielten im Wahlkampf 2019 nur noch eine untergeordnete Rolle.
  • Den Wahlkampf dominierten Frage der Rechtsstaatlichkeit und der Sicherung der Demokratie – insbesondere die Idee einer Überreglung des Obersten Gerichts durch eine Parlamentsmehrheit. Diese Override-Clause zielt auf sehr viel mehr, als auf die Immunität des der Korruption beschuldigten Ministerpräsidenten. Es wäre eine Veränderung des israelischen demokratischen Systems.
  • Das Wahlergebnis sieht keinen Gewinner aber einen Verlierer. Netanjahu verfehlt die Mehrheit, die ihn sicher vor Strafverfolgung schützen könnte. Viele hoffen bereits auf ein Ende der Ära Netanjahu. Der Ausgang der Koalitionsverhandlungen ist aber ebenso so offen wie die Möglichkeit erneuter Neuwahlen im Februar 2020.
  • Außenpolitisch sieht sich Israel in einer neuen Lage. Nicht mehr der alte Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser*innen prägt die Region. In Folge des arabischen Frühlings seien ebenso Vakueni entstanden, wie durch das geminderte strategische Interesse der USA. Der Gewinner sei der Iran.
  • Den Iran und die Präsenz seiner Verbündeten an der „Nordfront“ sehen viele in Israel stärker noch als früher als manifeste Gefahr für sich und die regionale Stabilität. Luftschläge im Libanon, Syrien und dem Irak sind alltäglich.
  • Die Deutsch-Israelischen Beziehungen werden politisch wie wirtschaftlich als sehr gut beschriebenen. Das gelte für die Autoindustrie wie für die Forschung. Im Bereich Verteidigung und Nachrichtendienste funktioniere die Zusammenarbeit reibungslos.

Annexion und Separation

Mauer um Shu’fat, Jerusalem

Die Reise bestätigte die negativen Entwicklungen, die bereits 2015 bei meiner letzten Reise nach Israel und in die palästinensischen Autonomiegebiete zu beobachten waren.[1] Bezogen auf den Friedensprozess haben sich die Bedingungen weiter verschlechtert.

Parallel hierzu ist die öffentliche Wahrnehmung des Konflikts international zurückgegangen. Selbst der Umstand, dass nach Feststellungen des UN-Menschenrechtsrats bei Freitagsdemonstrationen an der Grenze zwischen Gaza und Israel über 200 Demonstranten, darunter 50 Kinder und Jugendliche – von israelischen Scharfschützen erschossen sowie Hunderte Menschen verletzt wurden, findet wenig Öffentlichkeit.

Entscheidender als der Aufmerksamkeitsverlust in Europa und Deutschland ist der in der israelischen Öffentlichkeit. Dieser wird verstärkt durch eine Infrastrukturpolitik, von der die Mauer nur das ostentative Statement ist. Einschneidender sind die Straßenneubauten, die es Israelis ermöglichen, selbst abgelegene Siedlungen in den besetzten Gebieten zu erreichen, ohne einen Kontrollpunkt zu passieren. Gleichzeitig zerschneiden diese für Palästinenser*innen unpassierbaren Straßen die von ihnen verwalteten Gebiete.

Der Druck auf die palästinensische Bevölkerung in Ostjerusalem ist weiter gewachsen. Die Mittel variieren. Hierzu gehören das Hineindrängen von Siedler*innen, hohe Steuern auf Grund und Boden, die Verhaftung von Schulkindern, die Verweigerung von Familienzusammenführung, ökonomischer Druck, Schikanen durch Baubehörden aber auch tägliche nächtliche Raids in bestimmten Vierteln. Ziel all dieser Maßnahmen ist es den Anteil palästinensischer Bewohner*innen zu reduzieren, in dem diese entweder in die Westbank oder mindestens hinter die Mauer verdrängt werden.

Faktisch verwaltet die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) nicht eine politische Entität, sondern unzählige Kleinstgebiete in den sogenannten A- und B-Gebieten. Der Gazastreifen ist zudem in den Händen der Hamas. Sowohl palästinensische Vertreter*innen sowie Vertreter*innen der israelischen Opposition sprachen im Zusammenhang mit der Politik der Segregation und Verdrängung regelmäßig von einem System der „Apartheid“ und verglichen die palästinensischen Gebiete mit einem „Bantustan“. Dieser Kritik widersprachen Vertreter*innen der israelischen Regierung.

Der palästinensische Ministerpräsident Shtayeh erklärte unter anderem, dass Präsident Abbas in seiner Rede vor der UN Generalversammlung Wahlen ankündigen werde. Er wollte sich aber nicht auf ein Datum festlegen lassen. Voraussetzung für Wahlen sei, dass diese sowohl in der Westbank und in Ost-Jerusalem sowie im Gaza stattfinden könnten. Sie hängen also u.a. von einer Verständigung mit der Hamas ab.

Israel tut viel dafür, dass es keine politische Aussöhnung zwischen der Hamas und der Fatah gibt, die die PA dominiert. Es gestattet die Finanzierung der Hamas-Verwaltung im Gaza durch Bargeldlieferungen aus Katar. Es blockiert unter Hinweis auf sogenannten „Märtyrerrenten“ die Weiterleitung der Zolleinnahmen der palästinensischen Administration. Die internationale Budgethilfe für die anerkannte Palästinensische Administration sank von 2 Mrd. auf 700 Mio. $. Die Folge sind Gehaltskürzungen aber auch eine gesunkenen wirtschaftliche Nachfrage.

Eine Reihe Vertreter*innen der Zivilgesellschaft forderten sehr deutlich, dass sich das politische System in den palästinensischen Autonomiegebieten nach Jahren ohne Wahlen endlich auch für neue politische Kräfte öffnen müsse.

Kulturzentrum in Silwan, Jerusalem

Der palästinensische Ministerpräsident Shtayeh berichtete von seinen Bemühungen, die palästinensische Wirtschaft unabhängiger von der israelischen zu machen. Von Deutschland erwarte er in diesem Zusammenhang Hilfe bei der Vermarktung palästinensischer Produkte, wenn Deutschland nicht bereit zu Sanktionen gegen Israel sei. Außerdem hoffte er auf Unterstützung bei der Einführung eines Systems beruflicher Bildung, um so Existenzgründungen zu ermöglichen.

Ein palästinensischer Gesprächspartner*innen berichtete am Beispiel der Wassernutzung von der faktischen Annexion durch Israel. Das Wasser aus den Quellen in der Westbank werde von Israel genutzt. Umgekehrt erwarte Israel, dass die Palästinenser*innen Wasser aus israelischen Entsalzungsanlagen kaufen.

Von mehreren Gesprächspartner*innen auf beiden Seiten – palästinensischer wie israelischer – wurde wie auch schon bei vergangenen Reisen die These vertreten, dass sich nichts ändern werde, solange die Fortsetzung der Besatzung für Israel nicht mit steigenden Kosten verbunden sei.

Schon bei der letzten Reise wurde die Befürchtung geäußert, die Lage sei sehr volatil und es könne jeder Zeit zu einer Gewalteskalation kommen. Dass dies bisher nicht geschehen sei, wurde mit den angsteinflößenden Folgen des Arabischen Frühlings sowie der Sicherheitszusammenarbeit der Palästinensischen Autonomiebehörde mit der israelischen Armee begründet. Aber die Gewalt in der palästinensischen Gesellschaft – auch innerhalb von Familien – steige sprunghaft. Es drohe ein Zusammenbruch der palästinensischen Gesellschaft vergleichbar mit Entwicklungen im Irak.

Erwartungsgemäß sieht die Lage aus der Sicht des Beraters des israelischen Ministerpräsidenten ganz anders aus. Danach wäre der palästinensische Präsident Abbas ohne die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel und ohne das israelische Vorgehen gegen die Hamas in der Westbank nicht mehr an der Macht.

Israel helfe der palästinensischen Wirtschaft, indem etwa 100.000 Palästinenser*innen in Israel arbeiten könnten und man die Übergänge technisch so ausbaue, dass die Passage wesentlich erleichtert werde (es soll sogar Musik in den Kontrollstellen laufen). In den Gazastreifen liefere man alle benötigten Güter. Israel liefere den Palästinenser*innen im Jordantal Wasser.

Deutschland weigere sich, Kläranlagen zu finanzieren, an denen auch israelische Siedlungen angeschlossen seien. Israel habe aber keine Wahl, denn man werde weiter hier leben. Ein vollständig unabhängiger palästinensischer Staat sei unrealistisch, denn es müsse dauerhaft einen gewissen Grad an israelischer Sicherheitskontrolle geben.

In der Region gebe es ein großes Vakuum, in das der Iran vorstoße. Der Iran strebe die Kontrolle über Mekka und Medina an. Gleichzeitig werde der Zu-sammenbruch der arabischen Staaten noch 50 Jahre andauern. Die USA seien nicht darauf aus, erneut einen Krieg in der Region zu führen.

In dieser Situation suchten Staaten wie Ägypten, Jordanien und andere die Unterstützung Israels. So beliefere Israel Jordanien mit Wasser, Gas und Geheimdienstinformationen. Auch mit den Golfstaaten bestehe ein Austausch von Geheimdienstinformationen.

Die größte Gefahr für Israel bestehe aus Präzisionswaffen (Drohnen, Marschflugkörpern), die an verschiedenen Orten stationiert würden. Deren Zerstörungswirkung sei fast so stark wie diejenige von Massenvernichtungswaffen. Dies erfordere weiterhin ein israelisches Vorgehen wie aktuell im Libanon, in Syrien und dem Irak.

Die Angriffe auf die saudi-arabischen Ölförderanlagen gingen vom Iran aus. Saudi-Arabien hätte keine Eile, den Iran verantwortlich zu machen, weil es weder eine Strategie noch die Mittel gegen dessen Vorgehen habe.

Auch im israelischen Außenministerium wurde die grundlegende Veränderung der Herausforderungen und Bedrohungen betont. Allerdings wurden dort die Absichten des Iran weniger in der Eroberung von Mekka und Medina gesehen, sondern in dem Ziel regionaler Dominanz.

Mit Ausnahme des Libanon, Syriens und Teilen des Irak sehe Israel heute die arabischen Staaten nicht mehr als Feinde. Es gebe vielmehr durch den Iran und seine Stellvertreter sowie mit dem IS und Al-Qaida gemeinsame Bedrohungen.

Im Austausch mit offiziellen israelischen Gespächspartner*innen wurden die in Deutschland immer wieder zu hörenden Forderungen nach Einstellungen der Zahlungen an UNRWA sowie das Setzen von Hizbollah auf die Liste der Terrororganisationen nicht angesprochen.

Im Büro des israelischen Staatspräsidenten wurde auf den Einfluss von Hizbollah auf die libanesische Regierung hingewiesen.

Dort wurde auch wiederholt, was Staatspräsident Reuven Rivlin vor einigen Jahren in einer Rede ausführte: der Staat Israel bestehe aus vier verschiedenen Stämmen – den Säkularen, den Ultraorthodoxen (Haredim), den Nationalreligiösen und den Arabern.

Im Blick auf den 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27.1.2020 wird am 23.1.2020 in der nationalen Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem eine internationale Konferenz mit 18 Staatsführern stattfinden. Hierzu ist auch Bundespräsident Steinmeier eingeladen. Anschließend werde Staatspräsident Rivlin Deutschland besuchen um am 29.1.2020 eine Rede im Deutschen Bundestag halten.

In Yad Vashem

Boycott – Divestment – Sanctions

Voller Sorge äußerten sich viele palästinensische Gesprächspartner*innen über den Beschluss des Bundestages zur BDS-Bewegung. Sie fragten, ob dieser nun auch Grundlage der operativen Politik der Bundesrepublik werden würde, eventuell verschärft durch ein Ende der Unterstützung von UNWRA. Dies wurde von den deutschen Vertreter*innen zurückgewiesen. Auch der Versuch eines Mitglieds des Haushaltsauschusses des Bundestages, alle Projekte in den besetzten Gebieten mit einem Anti-BDS-Sperrvermerk zu versehen, sei nicht erfolgreich gewesen.

Dennoch sprachen uns auch die Vertreter*innen der staatlichen Entwicklungsorganisationen sowie von Stiftungen auf den Beschluss des Bundestages an. Der Tenor war eindeutig. Wenn dieser Beschluss umgesetzt wird, könnten sie ihre Arbeit hier einstellen.

Die Vertreter*innen israelischer zivilgesellschaftlicher Gruppen zeigten sich irritiert und entsetzt über den Beschluss des Bundestages zur BDS-Bewegung, wobei keiner dieser Gesprächspartner*innen diese Bewegung politisch unterstützte. Sie betonten die wichtige und besondere Rolle, die Deutschland bilateral sowie im Rahmen der EU spiele und forderten, dass Deutschland diese Rolle viel stärker wahrnehmen müsse. So könne ein Beschluss des Bundestages hilfreich sein, der die Parameter der EU sowie die Resolution des VN-Sicherheitsrates vom Dezember 2016 (2334) zur Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes bekräftige.

Energiekooperation

Einziger Lichtblick war der Beginn einer regionalen Kooperation von Israel, Ägypten, Libanon, Zypern, Griechenland und der Türkei zur Erschließung und dem Verkauf der Gasvorräte im östlichen Mittelmeer. In diese Kooperation sei auch die palästinensische Seite eingebunden.

Israel strebt eine weitgehende Unabhängigkeit von Energieimporten an und hat weite Bereiche der Stromversorgung von Kohle auf Gas umgestellt. Allerdings ist es regulatorisch weit davon entfernt, seine ungeheuren Potentiale im Bereich Erneuerbarer Energien wirklich zu nutzen. So wird Strom bis heute subventioniert.

Keine Sieger – ein Verlierer

Wahlplakat der Likud-Partei

Zentrales Thema im israelischen Wahlkampf war der Kampf um Demokratie und der Versuch der Netanjahu-Regierung die Gewaltenteilung auszuhebeln – sei es durch politische Auswahlverfahren für Richter, sei es durch eine Override-Clause, mit der eine definierte Mehrheit der Knesset Entscheidungen des Obersten Gerichts aufheben könne. Dafür gab es bei den Wahlen am 17.09. keine Mehrheit.

Dennoch ist die israelische Demokratie weiter unter Druck. Unterschiedliche Auffassungen wurden zu der Frage vertreten, inwieweit sich die lang andauernde israelische Besatzung negativ auf Israel, seine Gesellschaft und seine demokratische Verfasstheit auswirkt.

Vertreter*innen der israelischen Zivilgesellschaft betonen die negativen Auswirkungen auf die israelische Demokratie und warnen davor, in dem möglichen Ende der Dominanz von Netanyahu nach den Wahlen bereits ein Ende der De-Legitimierungstendenzen gegen besatzungskritische NGOs oder der Angriffe auf den Obersten Gerichtshof zu sehen.

Andere Gesprächspartner*innen sahen die Ursache für antidemokratische Tendenzen in Israel in der Einwanderung aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in der Stärke der ultraorthodoxen Kräfte (Haredim).

Dass es in Israel keine öffentliche Aufmerksamkeit für eine Friedenslösung gibt, heißt nicht, dass diese unbedeutend wäre. Tatsächlich ist das Verhältnis zu den Palästinenser*innen für die politischen Lager entscheidend. Diese sortieren sich aber weniger zwischen links und rechts.

Nach Yehuda Shaul von Breaking The Silence gibt es eher vier unterschiedliche Lager (die Zahlen stammen von der Meinungsforscherin Dahlia Scheinlin):

  • Das Annexionslager (z.B. Naftali Bennett sowie die frühere Siedlerorganisation Gush Emunim): ~20%
  • Das Lager, das die Palästinenser*innen weiterhin kontrollieren will (Netanyahu, Gantz, Labour): ~40%
  • Das Lager, das Gleichheit will (Meretz, Joint List): ~20%
  • Lieberman, der einen ethnisch reinen Staat durch Bevölkerungsaustausch will: ~10%

Die Wahlen führten in ein Machtpatt. Der Likud ist nicht mehr stärkste politische Kraft im Parlament. Obgleich die Liste Kahol-Lavan (Blau-Weiß) nun die stärkste Kraft im Parlament ist, habe zahlenmäßig mehr Abgeordnete dem Staatspräsidenten empfohlen, Netanyahu mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen.[2]

Der Zusammenschluss von vier Parteien, die mehrheitlich von palästinensischen Israelis gewählt werden unter dem Namen Joint List hat wie bereits 2015 13 Mandate gewonnen. Sie ist damit die drittstärkste Kraft im Parlament. Zur allgemeinen Überraschung stieg die bei den Wahlen im April auf 49% gefallene Wahlbeteiligung der palästinensischen Wahlberechtigten in Israel auf fast 60%. Dazu dürften sowohl die antipalästinensische Hetze des Likud sowie der Zusammenschluss von 11 Nichtregierungsorganisationen beigetragen haben, die mit 600 Freiwilligen versuchten, die palästinensische Bevölkerung zur Teilnahme an den Wahlen zu bewegen. So organisierte eine Gruppe Privatwagen und brachte insgesamt 7.000 Beduinen so an die Wahlurnen.

Bemerkenswert ist auch, dass sich außer den Vertretern der Partei Balad alle anderen 10 Abgeordneten der Joint List bereitgefunden haben, dem Staatspräsidenten zu empfehlen, Benny Gantz mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

Sowohl Labour, die in Verbindung mit der Partei Gesher antrat, wie auch die Partei Meretz, die als Democratic Union in Verbindung mit der Democratic Party des ehemaligen Ministerpräsidenten Barak und der auf dem Ticket des Green Movement agierenden ehemaligen Arbeitsparteiabgeordneten Stav Shaffir antrat, sind auf niedrigem Niveau ins Parlament gekommen. Vertreter von Meretz beklagten, dass die Umfragewerte, die direkt nach dem Zusammenschluss bis zu 12 Mandate vorhergesagt hatten, sich nicht erfüllt haben.

Offensichtlich hat die Bildung von Bündnissen nicht geholfen, der Polarisierung zwischen Blau-Weiß und Likud etwas entgegenzusetzen. Meretz hat wohl auch wegen des Bündnisses mit Barak Wähler aus dem Friedenslager an die Joint List verloren.

Auf der Rechten war ein ähnlicher Prozess zu beobachten. Das rechtsnationalistische Bündnis Yamina blieb mit 7 Mandaten unter den prognostizierten Werten. Der rechtsextremen und offen rassistischen Partei Otzma Yehudit gelang es nicht, die 3,25% Hürde zu überschreiben, obgleich die Partei in einigen Siedlungen sehr stark ist.

Der Verlierer der Wahl ist Benjamin Netanjahu. Während einige Gesprächspartner*innen Netanyahu nach 10 Jahren Regierung auf dem Weg aus der Regierung und zuweilen schon auf dem Weg ins Gefängnis sahen, warnten andere davor, ihn zu früh abzuschreiben.

Doch egal ob es Neuwahlen oder eine Regierung der Nationalen Einheit gibt, dürfte die Einschätzung der linksalternativen Website +972 Magazine zutreffend sein:

„We might be seeing the last days of a decade-long, Trump-like style of leadership based on racist rhetoric toward Palestinian citizens, left-wing NGOs, the media, and the judicial system. This is indeed a reason to rejoice.
The occupation, however, is not going anywhere. Israeli military control over the day-to-day lives of millions of Palestinians in the West Bank, the siege on Gaza, and the structural discrimination against hundreds of thousands of Palestinians in East Jerusalem are all here to stay. None of these three aforementioned groups were allowed to vote for the government that decides their fate“
.[3]

Gesprächspartner*innen

  • Dr. Reham Alhelsi (Heinrich Böll Stiftung, Palestine and Jordan)
  • Tim Assmann (ARD)
  • Nidal Atallah (Heinrich Böll Stiftung, Palestine and Jordan)
  • Sama Awaida (Women Studies Center),
  • Reuven Azar (Senior Advisor for the Prime Minister)
  • Sam Bahour
  • Ilan Baruch (Policy Working Group)
  • Jonas Blume (Kreditanstalt für Wiederaufbau, Büro Ramallah/Al Bireh)
  • Katharina Braig (Deutsche Botschaft Tel Aviv)
  • Prof. Naomi Chazan (Center for the Advancement of Women in the Public Sphere at the Van Leer Jerusalem Institute)
  • Christian Clages (Leiter der Ständigen Vertretung)
  • Shuli Davidovich (Außenpolitische Beraterin von Staatspräsident Reu-ven Rivlin)
  • Prof. Dan Diner
  • Akiva Eldar (Al-Monitor)
  • Sahar Francis (Addameer)
  • Debbie Gild-Hayo (Association for Civil Rights in Israell, ACRI und Itach-Maaki)
  • Prof. Gideon Greif (Historiker, Yad Vashem))
  • Michael Harari (ehemaliger israelischer Botschafter in Zypern)
  • Dr. Yara Hawari (Al-Shabaka)
  • Michael Herold (Stellvertretender Leiter des Vertretungsbüros Ramal-lah)
  • Hanna Ilge (Deputy Head of Development Cooperation, Ver-tretungsbüro Ramallah)
  • Margarete Jacob (Pressesprecherin der Deutschen Botschaft Tel Aviv)
  • Prof. Dan Jacobson (Policy Working Group)
  • Dr. Anna Janus (Deutsche Botschaft Tel Aviv, Head of Economic Affairs)
  • Alaa Jaradat (The Institute for Jerusalem Studies)
  • Dr. Frédéric Jörgens (Deutsche Botschaft Tel Aviv)
  • Ivan Karakashian (Norwegian Refugee Council),
  • Sami Khader (Maan)
  • Lara Kirchner (Heinrich Böll Stiftung, Palestine and Jordan)
  • George Kourzum (Maan)
  • Nour Odeh (Al-Shabaka)
  • Judith Oppenheimer (Ir Amim)
  • Israel Pirkesh (Anahnu)
  • Susan Power (Al-Haq)
  • Mossi Raz (Democratic Union, Meretz)
  • Ifat Reshef (Israeli Foreign Ministry, Head of Middle East Bureau, Cen-ter for Policy Research)
  • Dr. Basri Saleh (Deputy Minister of Education)
  • Romy Shapira (Heinrich Böll Stiftung, Israel)
  • Yehuda Shaul (Breaking the Silence)
  • Dahlia Sheindlin (+972 Magazine)
  • Dr. Mohammed Shtayeh (Ministerpräsident der Palästinensischen Au-torität)
  • Jawad Siyam (Wadi Hilweh Information Center – Silwan),
  • Jochen Stahnke (FAZ)
  • Abdelrahman Tamimi (Palestinian Hydrology Group)
  • Ofer Waldman (New Israel Fund Deutschland)
  • Dr. Susanne Wasum-Rainer (Botschafterin)
  • Raya Ziadeh (Manjala, Agroecological Initiative)

[1] https://www.trittin.de/2015/10/22/besatzung-und-demokratie-reisebericht-palaestina-israel/

[2] Dieser Empfehlung ist Staatspräsident Rivlin am 26.09. gefolgt. Damit rückt die Möglichkeit erneuter Neuwahlen im Februar 2020 näher – außer Blau-Weiß und Likud einigen sich doch auf eine Regierung der nationalen Einheit.  

[3] https://972mag.com/end-netanyahu-era-doesnt-mean-end-occupation/143446/  

Verwandte Artikel

Kommentar verfassen

Artikel kommentieren


* Pflichtfeld